Interview von Brahim Oubaha
Hallo lieber Matthias Glage. Herzlichen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast und mir meine Fragen beantworten kannst.
Du hast Dich für Marokko als neue Wahlheimat entschieden. Wie kam es dazu?
Matthias Glage: Seit 45 Jahren kenne ich Marokko, bin immer wieder hierher gereist, habe eine Familie dort unterstützt, für sie Land gekauft. Dann bekam ich die Kafala (Vormundschaft) für einen Jungen der Familie, der 10 Jahre bei mir in Deutschland aufwuchs und mit meiner Hilfe heiratete.
In Deinem Facebook-Beitrag vom 1. Mai 2015 erwähnst Du, dass der demografische Wandel in Deutschland und die Ängste vor Überfremdung Du dazu veranlasst haben, nach Marokko zu ziehen. Kannst Du genauer erklären, welche Faktoren diese Entscheidung beeinflusst haben?
Matthias Glage: Es gab push- und pull-Faktoren für meine Auswanderung nach der Pensionierung vor 8 Jahren. In Deutschland wird die Bevölkerung älter, ängstlicher vor Überfremdung und Besitzverlust. Viele haben Hemmungen vor dem Teilen und werden immer unzufriedener und konservativer. In Marokko dagegen geht es den meisten wirtschaftlich zwar schlechter, doch wirken sie zufriedener und halten mehr zusammen. Das sonnige, warme Klima spielt natürlich auch eine Rolle (allerdings brauchen wir dringend Regen). Marokkaner lachen viel mehr, das mag ich.
Wie erlebst Du die Unterschiede in der Lebensweise zwischen Deutschland und Marokko?
Matthias Glage: Kurz gefasst könnte man verallgemeinern: Deutsche leben, um zu arbeiten, Marokkaner arbeiten um zu leben. In Deutschland spielen Fleiß, Konkurrenz und Pünktlichkeit eine größere Rolle, das führt zu Stress. Auch zerfallen die Familien. Es kommt zu Vereinzelung. Das ist in Marokko (jedenfalls auf dem Lande) noch nicht so. Jedoch ist der „informelle Sektor“ viel zu hoch. Es fehlt an Arbeitsplätzen, weshalb viele ins Ausland streben.
Welche Aspekte der marokkanischen Lebensweise schätzest Du besonders?
Matthias Glage: Man lässt sich nicht stressen, hat Zeit, hilft einander. Die Kinder und Großeltern spielen in den Familien noch eine wichtige Rolle.
-In Deinem Beitrag betonst Du, dass Marokko für Dich ein „Paradies“ ist. kannst Du konkrete Beispiele für positive Erfahrungen oder Veränderungen in deinem Leben in Marokko teilen?
Matthias Glage: Da ich hier einen Garten habe, konnte ich mir dort ein „Paradies“ pflanzen. Es ist nach 8 deutschen der neunte Garten, aber hier wächst alles viel schneller. Zum Glück gibt es einen Brunnen! Und vieles würde in Deutschland (noch) nicht gedeihen. In einem Berberdorf des Hohen Atlas‘ in knapp 1000 m Höhe kann ich die gute Luft und vor allem die Ruhe genießen. Anstelle von Lehrer- und Kirchenmusikertätigkeit in Deutschland ist in Marokko das Schreiben getreten. Ich bin auch gern allein (mit vielen Katzen) und entscheide selbst, wann ich mit Freunden z. B. bei Facebook in Verbindung trete. Deshalb habe ich zwar Internet, aber kein Handy. Auch sind meine über 4000 Bücher mit umgezogen. Besuchern aus Deutschland zeige und erkläre ich gern die Schönheiten Marokkos, wobei mein Sohn sie fährt und versorgt.
Kannst Du uns mehr darüber erzählen, wie Du das Erdbeben erlebt hast? Was waren Deine ersten Gedanken und Reaktionen?
Matthias Glage: Als Geowissenschaftler war mir sofort klar, dass ich ein starkes Erdbeben erlebte, bei dem mein Haus wie ein Schiff auf dem Meer schwankte. Ein Bücherbord, das mit Schallplatten auf mich stürzte, schützte mich vor den nachfolgenden Steinen. Ich blieb völlig ruhig, stellte im Dunkeln etliche Schäden fest und ging dann zum Nachbarn, um Kontakt mit der marokkanischen Familie aufzunehmen.
Wie hat sich das Erdbeben auf Dein Haus und die umliegende Umgebung ausgewirkt? Kannst Du einige der Schäden beschreiben?
Matthias Glage: Natürlich weist das Haus etliche Schäden auf, da wir uns in der Nähe des Epizentrums befinden. Es gibt viele Risse, und an den Mauern ist einiges eingestürzt. Man kann auch in der Nachbarschaft sehen, wo Reichere oder Ärmere wohn(t)en. Viele Häuser sind völlig zerstört, die der Reicheren weisen kaum Schäden auf. Das Haus der von mir betreuten Familie ist vollständig zusammengebrochen. Sie selbst leben seither in einem Zelt oder bei mir. Interessant finde ich, dass die Minarette sich nun leicht in der Qibla verneigen. Noch etwas Positives: Durch das Beben sind neue Quellen entstanden, und der hiesige Fluss führt wieder Wasser.
Wie beschreibst Du das Verhalten der Marokkaner nach dem Erdbeben, und ihre Fähigkeit, sich an schwierige Situationen anzupassen?
Matthias Glage: Natürlich waren Entsetzen, Angst und Trauer nach dem Beben gewaltig. Die Toten wurden schnell und mit Trauer begraben. Bald kam Hilfe. Zelte wurden aufgebaut, das Militär errichtete ein Lazarett, viele Marokkaner aus Marrakech oder von weiterher brachten, Lebensmittel, Kleidung und Wolldecken. Für die Kinder errichtete man Spielgeräte. So empfanden sie die erste Zeit wohl fast wie Ferien. Auch die Erwachsenen passten sich schnell an das Zeltleben an. Geldspenden auch aus Deutschland ermöglichten kleine Anschaffungen.
Welche Lehren ziehst Du persönlich aus dieser Erfahrung, und wie beeinflusst sie Deine Einstellung zum Leben?
Matthias Glage: Ich bewundere die Geduld der Marokkaner (manche warten immer noch auf staatliche finanzielle Hilfe.) und ich bin sicher, dass der Glaube den Muslimen stark geholfen hat. Auch als Christ weiß ich – zumal mit 73 Jahren – um die Vergänglichkeit des Lebens und lebe im Hier und Jetzt, trauere nicht der Vergangenheit nach oder habe auch keine Angst vor der Zukunft. Je älter ich werde, umso mehr versuche ich, mich nützlich zu machen und meine Erfahrungen zu teilen.
Du hast Erfahrung in ehrenamtlicher Arbeit als Sozialarbeiter für „Newcomer“ in Deutschland, insbesondere für Flüchtlinge aus muslimischen Ländern. Inwiefern hat diese Erfahrung Deine Sichtweise beeinflusst, besonders im Kontext der aktuellen Diskussionen über Migration und Integration?
Matthias Glage: In meiner Kirchengemeinde gab es einen Helferkreis, der viel mit den Newcomern unternahm: Sprachunterricht, Reisen, Kochen, Feste. Noch heute habe ich mit etlichen von ihnen per Facebook Kontakt. Ich habe sie als Bereicherung empfunden und bewundert, wie sie ihr Schicksal ertrugen. Mein Rat war: Erst Deutsch lernen, dann eine Arbeit finden, danach eine Wohnung mieten und erst als Letztes heiraten. Bei der Integration war es wichtig, den meist jungen Männern klar zu machen, dass Frauen in Deutschland eine andere Rolle spielen. Später haben Ereignisse wie die Handgreiflichkeiten von Maghrebinern in der Silvesternacht auf der Kölner Domplatte leider dem marokkanischen Image sehr geschadet. Dennoch bin ich als „Grüner“ weiterhin der Meinung, dass Deutschland eine „Auffrischung“ der Bevölkerung gebrauchen kann, wenn sich die Zuwanderer integrieren und fleißig sind. Eine Assimilation halte ich für falsch. Doch dürfen sich auch keine Parallelgesellschaften entwickeln.
Wie siehst Du die Entwicklung von Feindbildern und Ängsten in der globalisierten Welt, insbesondere im Hinblick auf Migration?
Matthias Glage: Während Angela Merkel auch aus Menschlichkeit meinte: „Wir schaffen das!“, haben nun nach der Aufnahme von weit über einer Million Flüchtlingen Zweifel und Ängste, ja, sogar Feindbilder zugenommen. Interessanterweise ist dies besonders in Teilen Deutschlands (z. B. Sachsen) geschehen, wo es bisher wenig Migranten gibt.
Welche Rolle spielen Medien Deiner Meinung nach dabei?
Matthias Glage: Hierbei spielen Medien, insbesondere die sogenannten „sozialen Medien“, eine immer größere Rolle, da jeder hier seine (Vor)Urteile verbreiten kann. So werden vor allem von teilweise sogar faschistischen Organisationen Ängste geschürt, die in den „Filterblasen“ und Dank der Algorithmen schnell Verbreitung finden, was letztendlich sogar die Demokratie bedrohen kann.
Welche Rolle spielen deiner Meinung nach kulturelle Vielfalt und Multikulturalismus in der heutigen Gesellschaft, insbesondere vor dem Hintergrund von nationalistischen Bewegungen in Europa?
Matthias Glage: Als „Kosmopolit“ sehe ich große Chancen in kultureller Vielfalt für Kreativität in Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft, also für nachhaltige Lösungen bei den Problemen sozialer Ungleichheit, Ausbeutung von Mitwelt und Mitmenschen, anthropogenem Klimawandel und Artensterben. Dem stehen allerdings in den alternden Bevölkerungen vieler europaeischer Staaten nationalistische Bewegungen und Parteien zunehmend entgegen. In den letzten Wochen zeigen erfreulicherweise Demonstrationen in Deutschland, dass große Bevölkerungsteile sich dem mutig entgegen stellen.
Inwiefern können Begegnungen und Freundschaften zwischen verschiedenen Kulturen dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und eine menschenfreundlichere Gesellschaft zu schaffen?
Matthias Glage: Vorurteile lassen sich vermutlich am besten, wenn nicht sogar nur durch persönliche Begegnungen und Freundschaften abbauen. Ein Beispiel: Als man einen Neonazi in Mecklenburg fragte, ob er denn schon einmal einen Syrer kennen gelernt habe, antwortete er: „Nein, dann würde ich ihn ja mögen.“ Darum kann jeder mit gutem Beispiel voran gehen. Gemeinsame Feste können hier helfen. So spielt in Deutschland z. B. auch die Teilnahme am Fastenbrechen (Iftar) im Ramadan eine Rolle. Auch andere oft gemeinnützige Aktivitäten sind sinnvoll: Freiwillige Feuerwehr, Karneval, Umweltschutz.
Musik verbindet. Sie hat etwas Verbindendes über Sprachbarrieren hinaus, Du bist auch Musiker und warst Musiklehrer. Wie ist Deine persönliche Erfahrung mit dem Einsatz der Musik zur kulturellen Annäherung zwischen den Völkern?
Matthias Glage: Ein marokkanischer Freund, der schon gut Deutsch konnte, sang problemlos in meinem Kirchenchor mit. Die Musik, die ich bisher in Marokko erlebe, sagt mir wenig zu. Dafür bin ich wohl zu sehr durch Renaissance, Barock, Klassik und Romantik geprägt. Allerdings halte ich Musik und Tanz auch besonders aufgrund der Erfahrung mit Kindern für chancenreich zu kultureller Annäherung.
Welches kulturelle Projekt hast Du vor, in Marokko zu betreuen? Wie beeinflussen diese kulturellen Projekte die Verständigung zwischen zwei Ländern?
Matthias Glage: Bisher kenne ich zu wenig kulturelle Projekte in Marokko. Auch spreche ich nur wenig Darija. Jedoch bin ich gern bereit, zum Beispiel Deutsch-Unterricht zu geben. Bisher habe ich schon für etliche deutsche Examensarbeiten von Arabern Korrektur gelesen. Ich kann Klavier- und Orgelunterricht geben oder einen Chor leiten. Natürlich könnte ich auch auf Deutsch Vorträge halten, besonders zu Themen wie Ökologie, Geographie oder Geschichte.
Wie kann man die deutsch- marokkanischen Beziehungen verbessern?
Matthias Glage: Man sollte politische Vorurteile abbauen. Ein Austausch zwischen Schulen kann hilfreich sein. Man könnte Partnergemeinden mit ähnlich großer Einwohnerzahl schaffen, deren Bürger sich schreiben und später besuchen. Natürlich werden Deutsche gern Reisen in Marokko unternehmen, Marokkaner in Deutschland sicher auch. Sportmannschaften könnten Kontakte knüpfen und z. B. Fußball-Turniere durchführen. Orchester, Chöre, Tanz- oder Theatergruppen könnten sich austauschen. Finanzielle Förderungen durch Regierungen oder Sponsoren wären sicher hilfreich. Und mehr Medien sollten darüber berichten.
Vielen herzlichen Dank für das äußerst interessante Interview!
Auch ich danke fuer dieses Interview! Ueber Kontakte (die sich jetzt anzubahnen scheinen) freue ich mich und bin auch gern zu Teamarbeit fuer die deutsch- marokkanische Verstaendigung (nicht nur im kulturellen Bereich) bereit. Matthias Glage