Das folgende Interview ist von 2016 und wurde angepasst.
Uli, viele Masiren stellen sich und dir immer wieder diese Frage: Wer bist du?
Ich bin Uli Rohde, eine Deutsche, eine Hanseatin aus Hamburg. Ich bin Kunst- und Deutschlehrerin und danach habe ich noch Kulturanthropologie studiert, weil ich mein Leben nicht bis 65 in der Schule sehe. Ich unterrichte gern, aber ich möchte nicht, dass das meine einzige Option ist.
Kennen die Deutschen die Masiren? Wenn ja, was wissen sie über sie? Und wie kamst du zur masirischen Kultur?
Also, in Deutschland ist das Wort „Masiren“ oder „Amazigh“ praktisch unbekannt. Der Name „Berber“ wird lediglich mit Teppichen in Verbindung gebracht, aber die meisten wissen nicht, dass sich dahinter ein Volk verbirgt. Wir benutzen das Wort „Berber“ auch für Menschen, die obdachlos sind, weil sie immer ihr Hab und Gut mit sich herumtragen, wie ja auch die Tuareg das tun. Mein Verein DKF e.V. (Deutsch-Kabylische Freundschaft) hatte einmal Ulrich Delius vom Verein für bedrohte Völker (GfbV e.V.) eingeladen und er konstatierte damals auch schon, dass kaum jemand in Deutschland die Berber, also die Masiren, die sich selbst „Amazigh“ im Singular und „Imazighen“ im Plural nennen, kennt.
Ich habe festgestellt, dass es bei uns sogar Leute gibt, die von einer Reise aus Marokko zurückkehren und noch nicht einmal verstanden haben, dass die Masiren, also die Nordafrikaner keine Araber sind und auch nicht arabisch sprechen und wenn doch, dann nur als „Fremdsprache“. Letztendlich kann man nur das schützen, was man auch kennt und so hat sich unser Verein unter anderem zum Ziel gesetzt, den Deutschen die Masiren vorzustellen, ja mit ihnen gewissermaßen bekannt zu machen.
Mein erster Kontakt mit der masirischen Kultur war 2007. Damals habe ich für zwei Auslandssemester meines Kulturanthropologie-Studiums in Litauen gewohnt.
Wir „Anthropologen“ interessieren uns ja naturgemäß für andere Völker und ein Kabyle hatte mich – durch einen großen Zufall – per Skype kontaktiert. Und ich bin schon ein neugieriger Mensch und so habe ich ihm geantwortet. Wir haben ein wenig diskutiert und er sagte irgendwann, dass er Kabyle sei und ich wusste nicht, was das ist. Dann hat er mir von seinem Engagement und dem Kampf für seine Kultur erzählt und das hat mich irgendwie berührt. Ich fasste Vertrauen und so wurden wir Freunde und ein Jahr später gründeten wir den Verein „Deutsch-Kabylische Freundschaft“. Wir haben Diskussionsrunden zum Thema des kabylischen Freiheitskampfes und andere Events organisiert, wie das berberische Neujahrsfest Yennayer oder den 20. April, dem sog. Berberfrühling. Aber für uns ist es wichtig nicht nur zu feiern, singen und Couscous zu essen, sondern erst einmal die Leute zu informieren. Bei uns gibt es keine einzige Veranstaltung ohne einen engagierten Vortrag mit anschließender Diskussion.
Ein Jahr später haben wir dann die Online-Zeitung „Tamurt.info“ gegründet. Dank dieser Seite sind wir im Kontakt mit den marokkanischen Masiren. Du selbst warst es ja damals, der mich eingeladen hatte, Marokko zu besuchen. Das ist nun schon über zehn Jahre her. Inzwischen habe ich die Arbeit mit Tamurt aufgegeben. Man kann nicht auf allen Hochzeiten tanzen. Inzwischen nutze ich meine Facebookseite ULI ROHDE als Wahl der Kommunikation. Sie hat inzwischen über 183.000 Abonnenten. Eine tolle Zahl, wenn man bedenkt, dass es um Menschenrechte und Politik geht.
Du liebst die masirische Musik, spielst, singst und komponierst sie inzwischen ja auch selbst. Wie erklärst du diese Liebe?
Nun ja, die Musik ist irgendwie ein Geheimnis, ein Mittel um tief in eine Kultur einzutauchen und Zugang zu etwas zu erhalten, was einem normalerweise verschlossen bleibt. Die Musik ist wie eine eigene Sprache, oder wie viele Sprachen. Ich selbst spiele Klavier, Cello, Gitarre, Akkordeon, Flöte und Bendir (das ist eine kabylische Trommel) und bin ein Autodidakt aller meiner Instrumente. Beim Bendir brauchte ich Nachhilfe und Azal Belkadi ist ein Meister des Bendirs und hat mich in dessen Kunst eingeführt. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich einmal ein Schlaginstrument spielen würde. Meine Eltern hatten nie viele Reichtümer, aber Musik hatte einen wichtigen Platz in meiner Familie. Es fehlte an Vielem, aber das Geld für ein Instrument hatte Priorität. Mein Vater war nebenberuflich Jazz-Pianist und ist sogar Ehrenbürger von New-Orleans – der Stadt des Jazz. Und so kam auch ich zur Musik.
Als ich die kabylische Musik zum ersten Mal hörte, dachte ich, das ist was Neues für mein Ohr und ich wollte es spielen aber ich fand das Klavier irgendwie ungeeignet zur Umsetzung der masirischen Musik und so lernte ich extra Gitarre. Ich singe nun schon so um die 13 Jahre kabylische und allgemein masirische Lieder der Chawi und auch der Chleuh und ich liebe diese Musik jeden Tag mehr.
Ich mag die Tiefe, die Weisheit, die Wahrhaftigkeit und Ernsthaftigkeit in ihren Liedern und mir gefällt besonders das „engagierte Chanson“. Das korrespondiert gut mit meinen Werten. Aber um sie zu singen, braucht man meines Erachtens wenigstens ein Minimum an Engagement, um es nicht zu banalisieren.
Du komponierst ja inzwischen auch selbst Stücke in kabylischer Sprache und in Englisch und mischt die beiden Sprachen. Wieso ausgerechnet diese Kombination?
Ich schreibe Texte in englischer und kabylischer Sprache, weil ich möchte, dass sich die masirische Sprache so einem weiten Publikum öffnet. Immer ist die Zweitsprache im masirischen Kontext Französisch. Aber in Europa sprechen viel mehr Menschen Englisch. Ich habe ein paar Lieder geschrieben und auch welche übersetzt. Die Ideen zu den Stücken bespreche ich mit einem Freund. Dann schreibe ich einen Text auf Englisch und komponiere die Musik. Danach sage ich dem Freund, was ich mir so etwa in den anderen Textstellen vorstelle und lasse ihm aber viel Freiheit. Das Kabylische klänge komisch, wenn man es eins zu eins übersetzen würde und so lasse ich ihn einen abstrakten Text entwickeln, der sich zwischen die englischen Strophen fügt. Das erste Lied heißt „Tilelli anida kem“ – (Freiheit, wo bist du?) und das zweite „Tagrawla“ (Revolution). Bei diesem Lied bekomme ich beim Singen selbst eine Gänsehaut, weil das Lied irgendwie geladen ist mit traurigen Dingen, Gewalt, Mord, Wut, aber auch mit Hoffnung. Es handelt vom schwarzen Frühling 2001 in der Kabylei, bei dem 132 junge Männer bei einer Demonstration den Tod fanden. Von algerischen Einsatzkräften quasi befehlsmäßig erschossen. So etwas macht fassungslos. Ich bekomme manchmal bewegende Rückmeldungen zu meinen Liedern und überhaupt zu meinem Engagement. Dass die Menschen tief berührt sind und dass ich das gesungen habe, was sie selbst nicht in Worte zu fassen vermochten. Das ist für mich das größte Kompliment, weil es für mich als „Anthropologe“ bedeutet, dass ich die masirische Seele, ihr kulturelles Gedächtnis verstanden, ja inkorporiert habe.
Du bist über die Jahre zu einer Aktivistin der masirischen Forderungen geworden. Wie kam es dazu?
Lyazid Abid, der mich damals durch Zufall kontaktierte, sprach mit mir relativ schnell über Politik. Damals studierte ich ja gerade in Litauen und mir kam das alles bekannt vor. Die Litauer sind auch ein eher unbekanntes Volk und viele denken, dass sie Russen sind und russisch sprechen, was viele nach dieser jahrelangen Okkupation als eine Kränkung empfinden. Ich finde den Kampf der Masiren für ihre Kultur wichtig und die masirischen Frage oder der Kampf ist einfach richtig und rechtens. Er ist pazifistisch und auch kreativ. Die Litauer haben auch gekämpft und ebenfalls kaum internationale Solidarität erfahren, weil niemand Russland zum Feind haben wollte. Und dennoch sind sie heute frei. Es hat sich gelohnt nicht aufzugeben. Ich denke, wenn etwas Recht ist, dann kann man gewinnen. Die Menschen können nicht für immer wegsehen, sich blind und taub stellen.
Seit meiner Kindheit ist Ungerechtigkeit unerträglich für mich, ich wollte deshalb sogar Jura studieren, aber danach hab ich mich anders entschieden. Ich bin mir sehr bewusst und dankbar für die Tatsache in einem Teil dieser Erde geboren zu sein, in dem lediglich meine Großeltern Krieg miterleben mussten und dass ich alles habe, was ich brauche. Wir sind auch noch nicht bei der totalen Gleichberechtigung angekommen, aber mir sind praktisch keine Limits gesetzt. Ich habe starkes Mitgefühl mit allen Unterdrückten und Marginalisierten und ich möchte etwas zu einer besseren Welt beitragen. Ich weiß, dieser Kampf ist ein bisschen wie „David gegen Goliath“ aber ich habe dennoch den Eindruck, dass man gewinnen kann und wir haben ja auch schon Einiges bewegt.
Hast du uns noch etwas mit auf den Weg zu geben? Ein abschließendes Wort?
Die Masiren haben noble Werte. Ihre Demokratieform ist älter als die Griechenlands, nur weiß das leider kaum jemand! Ich mag diesen demokratischen Esprit, ihre Gastfreundschaft, ihre Tiefe, ihre Liebe zur Natur. Manchmal habe ich aber das Gefühl, sie sind dabei einige dieser Werte zu verlieren, wie etwa die Position der Frau in der masirischen Gesellschaft. Man darf nicht vergessen, dass fünfzig Prozent der Kraft der Gesellschaft von der Frau kommt -vielleicht sogar mehr – und man muss sie nicht zu Hause lassen, um Galette zu backen. Ein Amazigh (freier Mann) ist nicht frei, wenn seine Frau, Schwester und Mutter es nicht auch ist. Anders gesagt: Ein Amazigh (Selbstbezeichnung der Masiren in der männlichen Form) ohne eine Tamazight (weibliche Form der Selbstbezeichnung: freie Frau) existiert nicht! Jener Satz hat eine Doppelbedeutung, da die Sprachfamilie der Masiren, als auch die Sprachvariante im Souss in Marokko auch Tamazight heißen. Also ein Amazigh ohne seine Sprache existiert ebenfalls nicht. War das kompliziert? Dann muss man den Satz eben noch einmal lesen!
Mit der Ankunft des Kapitalismus oder des Arabo-Islam, welcher definitiv nichts mit dem Islam der bei euch herrscht zu tun hat, und die Scheinheiligkeit Einzug gefunden hat, wird das Gleichgewicht der masirischen Kultur gestört.
Mir tut es weh, das alles mit anzusehen, aber viele Aktivisten kämpfen gegen diese Probleme. Ich finde es wichtig, dass sich die Masiren auch für die anderen Masiren in anderen Ländern interessieren. Ihr seid verschieden, aber ich sehe auch eine gewisse Übereinstimmung in eurer Identität und selbst wenn es Grenzen zwischen euren Ländern gibt, dann bedeutet das aber nicht automatisch auch, dass es eine Grenze zwischen euch gibt. Ihr sitzt im gleichen Boot, ihr habt den selben Gegner, das selbe Schicksal aber auch die selben Ideale. Ihr solltet euch mehr zusammentun, als das bisher der Fall war. Wenn ich mich so umhöre, dann haben alle Masiren Vorurteile gegen die anderen Masiren. Ich habe das Gefühl, dass das alles gewollt ist. Ich habe auch erst geglaubt, was ich von kabylischer Seite über die marokkanischen Masiren hörte und dachte auch, dass es stimmt. Bis ich mich eines Besseren belehren lassen musste.
Wir Deutschen haben die Teilung unseres Landes zwischen 1952/54 bis 1989 miterlebt, aber jenes hat uns nicht davon abgehalten, uns als ein einziges Volk zu verstehen und für unsere Freiheit zu kämpfen. Die Demonstranten der Montagsdemonstrationen haben sich Woche für Woche versammelt und „Wir sind das Volk“ skandiert, bis zu ihrer Befreiung. Und siehe da: wir sind wiedervereint.
Ich möchte auch sagen, dass es wichtig ist in diesem Kampf adäquat und weise zu handeln und nicht rassistisch zu werden. Das letzte was wir brauchen ist noch mehr Hass und noch einen Krieg.
Ein weiterer Grund mich zu engagieren ist es, dass ich mich für mein eigenes Land schäme. Ich schäme mich dafür, dass wir Waffen z.B. an Algerien liefern. Waffen, mit denen die eigene Bevölkerung unterdrückt wird. Zu uns kommen Flüchtlinge in Strömen – auch aus Algerien. Ich unterrichte manchmal selbst Flüchtlingskinder in den Schulen, an denen ich arbeite (vorher in Hamburg, jetzt in Paris, wo ich seit 2018 wohne. Einmal hatte ich einen Jungen, der vollkommen verängstigt war. Später bekam ich heraus, dass er auf der Flucht über die Balkanroute zwei Wochen verloren gegangen und von seinen Eltern getrennt wurde. Das Kind kann sich bis heute kaum von seiner Mutter lösen und folgt ihr sogar bis auf die Toilette. Ich möchte den Menschen diese Flucht ersparen, indem wir vernünftige Verhältnisse in ihren Ländern schaffen. Europa kann eine so massive und einseitige Einwanderung ja auch nicht auf Dauer stemmen.
Ich denke, dass Nordafrika das Potential hat, ein gutes Beispiel, ja eine Hoffnung zu sein für den Rest Afrikas. Ihr „könnt“ Demokratie, Toleranz und Nächstenliebe! Also macht es vor allen. Seid Inspiration.
Uli Ul-iw Rohde
Das Interview führte: Brahim Oubaha
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