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Bildung für alle: Tamazight als Schlüssel zu kultureller Integration in Europa
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Bildung für alle: Tamazight als Schlüssel zu kultureller Integration in Europa

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Inmitten aktueller Debatten über Integration, Bildung und die Prävention von Radikalisierung wird eine wichtige Stimme oft überhört: die der Amazigh – auch bekannt als Berber –, eines der ältesten Völker Nordafrikas. Ein Großteil der Menschen marokkanischer Herkunft in Europa gehört dieser Bevölkerungsgruppe an. Dennoch bleibt ihre Sprache, Tamazight, in europäischen Bildungsprogrammen weitgehend unberücksichtigt.

Vor diesem Hintergrund richtet sich Rachid Raha, Präsident der Amazigh-Weltversammlung (World Amazigh Assembly), mit einem eindringlichen Appell an die Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Seine zentrale Forderung: Tamazight muss als Muttersprache anerkannt und in das europäische Bildungssystem integriert werden. Nur so lassen sich kulturelle Ausgrenzung, schulisches Scheitern und gesellschaftliche Spannungen wirksam verhindern.

Hiermit seinen vollständigen Appell :

Betreff: Appell zur Aufnahme der Tamazight-Sprache in europäische Bildungssysteme – Für eine gerechte und inklusive Bildungspolitik

Sehr geehrte Abgeordnete des Europäischen Parlaments,

in meiner Funktion als Präsident der Internationalen Amazigh-Versammlung wende ich mich mit diesem Schreiben an Sie, um Ihre Aufmerksamkeit auf eine zentrale bildungs- und integrationspolitische Herausforderung zu lenken – eine Herausforderung, die nicht nur zehntausende Kinder mit marokkanischem Migrationshintergrund betrifft, sondern auch die soziale Kohäsion innerhalb unserer europäischen Gesellschaften unmittelbar berührt.

Mehrere Mitgliedstaaten der Europäischen Union – darunter Spanien, Frankreich, Deutschland und Belgien – haben im Rahmen des sogenannten ELCO-Programms („Enseignement de la Langue et de la Culture d’Origine“ – Unterricht in Sprache und Kultur des Herkunftslandes) bilaterale Abkommen mit dem Königreich Marokko geschlossen. Ziel dieser Programme ist es, die kulturelle Identität von Kindern mit marokkanischen Wurzeln zu fördern. In der Praxis jedoch beschränkt sich dieses Bildungsangebot nahezu ausschließlich auf den Arabischunterricht sowie eine primär religiös geprägte Kulturvermittlung.

Diese Ausrichtung verkennt eine wesentliche Realität: Die Mehrheit der marokkanischstämmigen Bevölkerung in Europa – ebenso wie deren Kinder – ist nicht arabischer, sondern amazighischer Herkunft. Das bewusste Ausklammern der Tamazight-Sprache und der Amazigh-Kultur aus dem schulischen Bildungsangebot bedeutet eine symbolische Ausgrenzung, die sowohl die schulische als auch die gesellschaftliche Integration dieser Kinder massiv erschwert. Das Ignorieren ihrer Muttersprache stellt eine pädagogische wie auch kulturelle Fehlentscheidung dar – mit Folgen, die sich in Bildungsverlust, Identitätskonflikten und im schlimmsten Fall in gesellschaftlicher Entfremdung und Radikalisierung niederschlagen können.

Zahlreiche Studien und reale Entwicklungen, insbesondere im Zusammenhang mit den Terroranschlägen in Madrid (2004), Paris (2015), Brüssel (2016) und Barcelona (2017), zeigen auf, dass viele der Täter aus marginalisierten amazighischen Gemeinschaften stammten – insbesondere aus dem Rif-Gebiet in Nordmarokko. Eine bewusste Förderung ihrer kulturellen Wurzeln könnte ein entscheidender Beitrag zur Prävention extremistischer Tendenzen sein.

Tamazight ist eine anerkannte Sprache – auch in Marokko

Die Tamazight-Sprache wurde bereits 2011 in der marokkanischen Verfassung (Artikel 5) als Amtssprache neben dem Arabischen anerkannt. 2019 wurde dieser Status durch das Organgesetz Nr. 26.16 weiter konkretisiert. Vor diesem Hintergrund ist es kaum nachvollziehbar, warum Tamazight bislang in keinem der bestehenden ELCO-Abkommen mit europäischen Staaten berücksichtigt wird – obwohl sie die tatsächliche Muttersprache eines großen Teils der marokkanischen Diaspora in Europa ist.

Unsere Forderung: Bildungsgerechtigkeit durch sprachliche Inklusion

Im Sinne einer chancengerechten, inklusiven und zukunftsorientierten Bildungspolitik fordern wir die Überarbeitung der bestehenden bilateralen Bildungsabkommen mit dem Königreich Marokko. Die Aufnahme der Tamazight-Sprache und der Amazigh-Kultur in die Lehrpläne für Kinder mit marokkanischem Hintergrund ist aus unserer Sicht ein notwendiger Schritt, um:

  • die kulturelle Vielfalt Europas authentisch abzubilden,

  • die schulische und gesellschaftliche Integration amazighischer Kinder zu fördern,

  • sprachbedingtem Schulversagen und Bildungsbenachteiligung entgegenzuwirken,

  • sowie Radikalisierung und Ausgrenzung frühzeitig vorzubeugen.

Wie der französische Linguist Alain Bentolila treffend formulierte:

„Nur auf der Grundlage der Muttersprache kann ein Kind sicher lesen und schreiben lernen. Alles andere bedeutet, es dem Scheitern auszusetzen.“

Schlussfolgerung

Europa kann seine demokratischen Grundwerte nur dann glaubhaft vertreten, wenn es die sprachliche und kulturelle Vielfalt seiner Bürgerinnen und Bürger anerkennt, schützt und aktiv fördert. Die gleichberechtigte Einbindung der Tamazight-Sprache in europäische Bildungsprogramme ist daher nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit – sondern auch ein wirksames Instrument zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Wir fordern Sie daher eindringlich auf, sich im Europäischen Parlament für eine Revision der bestehenden ELCO-Abkommen einzusetzen und die Aufnahme der Tamazight-Sprache in die schulischen Programme europäischer Bildungseinrichtungen zu unterstützen – im Sinne von Demokratie, Vielfalt und sozialem Frieden.

Für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Engagement danke ich Ihnen im Namen der Internationalen Amazigh-Versammlung sehr herzlich.

Mit vorzüglicher Hochachtung,
Rachid RAHA
Präsident der Internationalen Amazigh-Versammlung

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