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Von Brahim Oubaha
Der Ahwach gehört zu den bedeutendsten kulturellen Ausdrucksformen der Amazigh in der Region Souss-Massa und gilt als lebendiges Symbol ihrer kollektiven Identität. Diese Region im Süden Marokkos, geprägt von Gebirgen, fruchtbaren Ebenen, Oasenlandschaften und Wüstengebieten, besitzt eine kulturelle Vielfalt, die sich in ihren Traditionen widerspiegelt. Ahwach ist dabei weit mehr als ein folkloristisches Spektakel; er ist ein komplexes soziales, poetisches und musikalisches Ritual, das Geschichte, Sprache und Zusammenhalt miteinander verbindet.
Traditionell wird Ahwach bei Hochzeiten, Stammesfesten, religiösen Feiern oder gemeinschaftlichen Ereignissen aufgeführt und spielt eine zentrale Rolle im sozialen Leben der Amazigh. Seine Vielfalt ist bemerkenswert: Von Ahwach Imi Ntanut über Ahwach Isafen und Ahwach Ashtouken bis hin zu Varianten in Tata oder dem Drâa-Gebiet entwickelt jede regionale Form eigene Rhythmen, Bewegungsmuster und poetische Traditionen. Diese Unterschiede spiegeln die kulturelle Dynamik der Region wider, denn jede Version erzählt die Geschichte ihrer eigenen Gemeinschaft.
Die Ästhetik des Ahwach zeigt sich in der traditionellen Kleidung seiner Teilnehmer, dem farbenfrohen Silberschmuck der Frauen, den weißen Turbanen der Männer und den synchron ausgeführten Gruppentänzen, die meist in Halbkreisen oder geschlossenen Reihen stattfinden. Begleitet werden die Tänze von kraftvollen Perkussionsinstrumenten und wechselnden Gesängen. Die Rolle des Aalam, des Tanzleiters, ist dabei entscheidend: Er bestimmt den Rhythmus, koordiniert die Bewegungen und steigert die Intensität der Aufführung. Trotz der visuellen Schönheit, die Besucher sofort fesselt, liegt das eigentliche Herz des Ahwach jedoch in der Dichtung.
Die Dichterinnen und Dichter, die sogenannten tamedyazt, tragen improvisierte Verse vor, die persönliche, soziale oder politische Themen behandeln. Ihre Worte entstehen oft spontan, getragen von einer beeindruckenden sprachlichen Gewandtheit. Die Poesie des Ahwach dient als Medium des kulturellen Gedächtnisses und als Spiegel der sozialen Realität. Sie vermittelt Werte, erzählt Geschichten über Liebe, Natur oder Religion und ermöglicht es der Gemeinschaft, ihre Erfahrungen und Herausforderungen auszudrücken. Zahlreiche historische Beispiele zeigen, dass Ahwach auch als Plattform des Widerstands genutzt wurde, etwa während der französischen Kolonialzeit. Dabei spielten nicht nur Männer, sondern auch Frauen eine wichtige Rolle, indem sie durch ihre Gedichte ihre Stimmen in einer traditionell männerdominierten Gesellschaft erhoben.
Mit der zunehmenden medialen Aufmerksamkeit und dem wachsenden Interesse am Kultur- und Erlebnistourismus hat sich die Darstellung des Ahwach jedoch verändert. Oft wird er auf seine visuellen Elemente reduziert und als exotische Tanzshow präsentiert, wobei die tiefere poetische und soziale Bedeutung verloren geht. Besonders im Tourismus wird Ahwach häufig aus dem kulturellen Kontext herausgelöst und als Unterhaltung für Besucher inszeniert. Diese oberflächliche Präsentation führt nicht nur zu einem Verlust der Authentizität, sondern birgt auch die Gefahr, dass wichtige poetische Traditionen an jüngere Generationen nicht mehr weitergegeben werden. Die Herausforderung unserer Zeit besteht darin, die Komplexität des Ahwach zu vermitteln und die Menschen – sowohl Einheimische als auch Gäste – für seine kulturelle Tiefe zu sensibilisieren.
Die Bewahrung dieser Tradition ist von zentraler Bedeutung, denn Ahwach ist weit mehr als ein Tanz. Er bewahrt Sprache, Identität, soziale Bindungen und kulturelle Werte. In einer Welt, die sich durch Globalisierung und Modernisierung rasant verändert, drohen viele traditionelle Praktiken an Bedeutung zu verlieren. Die Erhaltung des Ahwach erfordert daher nicht nur Schutzmaßnahmen, sondern auch eine Weiterentwicklung in zeitgemäßer form, die die poetischen und rituellen Elemente in ihrer Tiefe erhält und zugleich für kommende Generationen zugänglich macht.
Ahwach ist ein lebendiges Erbe, ein poetischer Dialog und ein Ausdruck jahrhundertealter Identität. Er verkörpert die kulturelle Stärke der Region Souss-Massa und ihr tief verwurzeltes Gemeinschaftsgefühl. Umso wichtiger ist es, diesen Schatz nicht zu reduzieren oder zu kommerzialisieren, sondern sein wahres Wesen zu verstehen und zu bewahren, damit er auch in Zukunft das bleibt, was er seit Jahrhunderten ist: das pulsierende Herz der Amazigh-Kultur.
