In einem kleinen Dorf der Souss-Region im tiefen Gebirge Marokkos bin ich geboren und aufgewachsen. Eine Stromleitung erreichte uns erst 1996.
Der Weg zu uns ist eine Baustelle, die nie fertiggestellt wurde. Zumindest ist das so, solange ich denken kann. Diesen Weg musste ich immer nehmen, um zum Gymnasium in der Stadt Agadir zu kommen.
Unser Dorf verfügte über eine Grundschule und eine Sekundarschule. Die Grundschule glich allerdings mehr einem Gefängnis als einer Schule und die Sekundarschule war nicht minder einladend. Im Winter litten wir alle unter der Kälte.
Ich vergesse niemals den Augenblick, als ich mich von meiner Mutter verabschiedete. Uns beiden tränten die Augen, denn es war klar, dass wir uns die nächsten Monate nicht mehr sehen würden … Es war für uns ein schwerer Abschied.
Mein Vater besuchte im Gegensatz zu meiner Mutter die Schule und das Gymnasium
Mein Vater war zunächst Händler und beschloss, sich später als Maurer zu betätigen. Im Gegensatz zu meiner Mutter besuchte er die Schule und das Gymnasium. Nicht zuletzt deshalb legte mein Vater sehr großen Wert auf unsere Bildung. Er tat sein Bestes, damit wir eine gute Schulbildung genossen. Er stand mir immer zur Seite und half mir, wo er nur konnte.
Er sorgte auch dafür, dass ich das Gymnasium besuchte. Ich selbst war eher schüchtern und drängelte mich nie vor… Ich frage mich heute noch, wie ich es geschafft habe, Pädagoge zu werden, der überzeugend vor Menschen sprechen kann.
Ich erinnere mich noch daran, wie mein Vater im 2. Jahr auf dem Gymnasium meinen Stundenplan ausfüllte und mich damit überraschte, dass Deutsch ab sofort meine zweite Fremdsprache sei. Er erkannte meine Verwirrung, insbesondere deshalb, weil ich bis dahin schon seit einem Jahr Englisch als zweite Fremdsprache absolvierte. Und nun das: eine neue Fremdsprache lernen, von der ich bis dahin keine Ahnung hatte. Eine Sprache bzw. eine Kultur, die mir absolut fremd war… Widerstand war zwecklos, deshalb beugte ich mich dem ohne Widerworte.
Mit meinem Vater sprach ich nicht viel, da ich mich für etwas entschieden hatte, was er eigentlich nicht wollte: ein Leben für Literatur und nicht für Wissenschaften. In Marokko entscheidet man sich nach der Sekundarschule entweder für die Literatur und Geisteswissenschaften oder aber für Wissenschaften.
Mein über alles geliebter Vater hatte große Hoffnung in mich gesetzt und kaufte mir ein deutsches Wörter- und Grammatikbuch. In unserer Gruppe war ich der Einzige, der ein Wörterbuch besaß. Wir waren eine Gruppe aus Jungen und nur einem einzigen Mädchen, das aus einem anderen Dorf kam. Hier war es nun angesagt, die Sprache von Goethe zu lernen.
DER DIE DAS
Bereits nach dem Monat, in dem wir „der-die-das“ kennenlernten, wollten alle bis auf das Mädchen wieder zurück zum Englisch-Unterricht… Keiner hätte sich vorher im Traum vorstellen können, wie schwer die deutsche Sprache ist. Wir hatten deshalb große Angst, aus diesem Grund das Abitur nicht zu schaffen.
Wir gingen zum Direktor und äußerten unsere Bedenken. Seine Antwort war klipp und klar: „Geht in Eure Klasse zurück“. Er hätte uns auch ein paar Fußtritte oder Schläge verpassen können. Das war früher in Schulen und Gymnasien so üblich.
Unsere Deutschlehrerin war wiederum sehr nett. „Sie kommen aus dem Dorf und sie wissen nichts“, sagte das Mädchen der Lehrerin. Denn das Mädchen selbst konnte schon viele Sätze auf Deutsch und ihre Aussprache war sehr gut. „Stimmt“, bekannte die Lehrerin. In diesem Augenblick wurden mir die Vorurteile gegenüber den Dorfkindern vor Augen geführt. Von da an war ich motivierter denn je, weiter zu kommen.
Es machte mir einen riesen Spaß, die ersten Sätze auf Deutsch zu lernen. Wir lachten und machten Witze über bestimmte Wörter und Sätze. Umso enttäuschter waren wir allerdings, als die Ergebnisse unserer ersten Arbeit katastrophal ausfielen. Ich hatte nur 9 von 20 Punkten erhalten, das Mädchen hatte wiederum erwartungsgemäß die beste Note bekommen. Trotzdem blieb keiner von uns sitzen. Wir schafften es alle geschlossen in die 11. Klasse zu kommen.
Morgens jagte ich Vögel mit meiner selbst gemachten Steinschleuder
Die Sommerferien verbrachte ich wie immer in meinem Dorf, wo die Temperaturen normalerweise jenseits der 40°C Marke liegen. Nach dieser Katastrophe in Deutsch hatte ich nun einen Plan für meine Sommerferien: jagen gehen, schwimmen, Fußball spielen und Deutsch lernen. Im Sommer war ich nur ein Schafhirte und durfte unseren Ziegen und Schafen im Wald hinterherlaufen. Diese Aufgabe übernahmen in dem Sommer meine Geschwister.
Morgens jagte ich Vögel mit meiner selbst gemachten Steinschleuder und am Nachmittag ging ich schwimmen. Danach hatte ich in der prallen Sonne die unregelmäßigen Verben, Adjektive und Verben mit Präpositionen gepaukt oder mir neue Vokabeln eingeprägt. Abends spielte ich Fußball. Dieses tägliche Ritual sollte jedoch nicht lange währen. Eines Tages nahm mich mein Vater mit auf seine Arbeitsstelle. Ich sollte ihm beim Fliesenlegen helfen. Damit wollte er mir vor Augen führen, dass die Arbeit auf einer Baustelle schlimmer ist als zur Schule zu gehen und zu lernen. Mit anderen Worten sollte ich mich zusammenreißen und fleißig lernen. „Ein guter Fliesenleger bin ich nicht geworden, aber ich weiß immerhin wie es geht“, sagte er, denn für ihn war Bildung das Tor zu einem besseren Leben.
Wie freuten uns auf die Sommerferien, allerdings kam bereits nach dem ersten Monat Langeweile auf und die Sehnsucht nach der Schule und dem Geruch von neuen Büchern.
Nur ein Zehntel besser und ich hätte sogar ein „Sehr gut“ bekommen
Mein Hauptziel in der 11. Klasse war es, immer das beste Ergebnis zu erzielen. Dies zeigte sich schon in der ersten Klausur im Fach Deutsch. Ich bekam 19 von 20 Punkten und war darüber überglücklich. Zu Beginn des zweiten Semesters suchte mich das Mädchen auf, um mir mitzuteilen, dass ich das beste Ergebnis im ersten Semester hatte. Ich erinnere mich noch deshalb so genau daran, weil es an diesem Tag sehr heftig regnete. Ich konnte es einfach nicht glauben, denn ich war es nicht gewohnt, der Beste in der Gruppe zu sein. Gerade ich als ein so schweigsamer und schüchterner Mensch. Ich brauchte Wochen, um diese neue und für mich sehr schöne Situation anzunehmen.
Beim Abitur bekam ich einen neuen Lehrer. Er war wirklich cool und das Lernen mit ihm machte viel Spaß. Ich mochte es sehr, wenn er von seinen Abenteuern in Deutschland erzählte. In der ersten Stunde kam er am Unterrichtsende zu mir und sagte: „Du solltest nach Casablanca gehen und dort Germanistik studieren“. Wie bitte? Casablanca, eine Stadt, die ich nur aus dem Fernsehen kannte? Ich vergaß diesen Vorschlag sehr schnell wieder, denn zunächst war es nur wichtig, das Abitur zu bestehen.
Mit 15,95 von 20 Punkten schaffte ich es endlich! Nur ein Zehntel besser und ich hätte sogar ein „Sehr gut“ bekommen. Aber das war nicht weiter tragisch, denn ich war überglücklich, die Schule endlich hinter mich gebracht zu haben.
Ich wollte Journalist werden und erkundigte mich, ob ich Journalismus mit Deutsch als Fremdsprache studieren könnte. In einem Land, das offiziell noch bis 1956 unter französischem Protektorat stand (fast einer Kolonie entsprechend) und seitdem weiterhin unter dem wirtschaftlichen Einfluss Frankreichs steht, ist die französische Sprache eigentlich der Schlüssel zum Erfolg.
Während des letzten Schuljahres entdeckte ich Kafka, Goethe und Schiller. Damals kaufte ich ein Buch auf einem Flohmarkt in Agadir, das wohl ein Deutscher oder eine Deutsche am Strand vergaß. Das Buch enthielt Texte von großen Dichtern und Autoren. Darunter einen Text von Kafka: „Der Brief an meinen Vater“. Mein Lehrer wunderte sich schon damals darüber, dass ich einen solchen Text las.
Die große Liebe für die deutsche Sprache stellte sich bei mir aber erst nach und nach ein, so dass ich mich letztendlich doch für ein Germanistikstudium in Casablanca entschied. Meine Mutter machte sich deshalb Sorgen um mich. Auch wenn sie diesmal nicht vor mir weinte, so bin ich mir sicher, dass ihr Herz heimlich weinte. Casablanca ist eben nicht Agadir.
Casablanca
Die Hochhäuser und die breiten Straßen von Casablanca faszinierten mich. Die Leute sprachen irgendwie anders. Aufgrund meiner Schüchternheit fiel es mir am Anfang ziemlich schwer, mit den anderen Studenten in Kontakt zu treten. Ich lernte aber bald einen Studenten kennen, der auch aus dem Südosten Marokkos stammte. Er hatte wie ich ebenfalls in Agadir Deutsch gelernt. Er wurde einer meiner besten Freunde und wir halfen uns während der drei Studienjahre in der weißen Stadt untereinander so gut wir es nur konnten.
Und, oh Wunder, im ersten Semester hatte ich wieder die besten Noten geschrieben, obwohl es nicht mein vorrangiges Ziel an der Universität war, die besten Noten zu bekommen, sondern mir Wissen anzueignen und meine Persönlichkeit zur Entfaltung zu bringen. Ich war sehr dankbar dafür, dass ich Professoren hatte, die mich stets motivierten und die an mein Können glaubten und mich auch darin bestärkten, weiterzumachen.
Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg
Meine Vorstellung, unmittelbar nach dem Gymnasium nach Deutschland zu gehen, um dort zu studieren, ging leider nicht in Erfüllung… Es war dafür zu viel Bürokratie im Weg, aber wie heißt es doch so schön: „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“. Im Jahr 2013 bekam ich dann ein DAAD-Stipendium für einen internationalen Sommersprachkurs in Stuttgart. Wie immer hatte meine Mutter große Angst um mich. Ich kam aber damit zurecht und genoss die Zeit bei den Schwaben, deren Dialekt ich allerdings nur sehr schwer verstand. Der Aufenthalt in Stuttgart war aber so etwas wie ein Wendepunkt in meinem bisher bescheidenen Leben.
Nachdem ich das Germanistikstudium erfolgreich abgeschlossen hatte, reiste ich 2014 zunächst nach Tunesien. Ich wandelte dort auf den künstlerischen Spuren von Paul Klee, Moilliet und Macke, die sich dort 100 Jahre zuvor aufhielten.
Dann ging es ans Mittelmeer. Diesmal nach Tanger, der Stadt im Nordwesten Marokkos mit dem besonderen Charme einer Stadt zweier Welten. Da es mit dem Masterstudium in Bayreuth leider nicht klappte, entschied ich mich für ein Übersetzer- und Dolmetscherstudium in Tanger. Eigentlich lag mir das Fach Übersetzung überhaupt nicht. Und so fing ich wieder einmal mit etwas an, das ich eigentlich nicht mochte.
Erst das Buch von Paul Ricor „Vom Übersetzen“ ließ mich dieses Vorhaben mit anderen Augen sehen. Meine Angst war plötzlich wie weggezaubert. Den Aufnahmetest bestand ich mit Bravour. Das Studium schloss ich sogar als Jahrgangsbester ab.
Im Nachhinein gesehen war es eine große Herausforderung für mich, insbesondere, weil ich immer wieder finanzielle Probleme bekam… Sobald ich aber auf einem Felsen am Mittelmeer saß, habe ich alle meine Probleme vergessen…
Schlimm wird es nur dann, wenn man vorzeitig aufgibt
Das Leben ist voller Wellen, ein Auf und Ab. Unerwartet bekam ich dann ein Angebot von einer Sprachschule, dort als Deutschlehrer anzufangen. Ich nahm das gerne an und machte mich sofort daran, meinen ersten Kurs vorzubereiten. Das machte mir sehr großen Spaß.
Die Sprache, die ich ursprünglich für überhaupt nicht erlernbar hielt, ermöglichte mir nun sogar, die wichtigsten Verfassungsorgane Deutschlands kennenzulernen. Ich durfte beispielweise als Praktikant 5 Monate lang im Deutschen Bundestag gemeinsam mit 40 anderen Personen aus den verschiedensten Ländern die Funktionsweise der Demokratie in Deutschland erforschen. Ich lernte dabei viele Persönlichkeiten der Weltpolitik kennen.
Das alles ist nur deshalb möglich geworden, weil ich aus Überzeugung der deutschen Sprache immer treu geblieben bin.
Abderrahim Bougayou
Es ist eine Freude, Ihren Text über die deutsche Sprache zu lesen, und es ist eine Freude zu entdecken, dass Sie ein Soussi sind. Ich bin in Tiznit geboren und Azul d Tanmirt a Bougayou